Als Kind dauerte ein Jahr eine gefühlte Ewigkeit.

Doch mittlerweile hat er einen starken Gegenspieler gefunden: Kairos, der Gott der qualitativen Zeit. Kairos steht für die Gegenwart mit ihren Gelegenheiten, für den rechten Augenblick, für den besonderen Moment, den es wahrzunehmen und zu nutzen gilt. Mit Kairos führe ich eine ganz besondere Beziehung. Davon will ich erzählen:

Es war einer jener seltenen Abende, die ich so liebe: Die blaue Stunde war angebrochen, jene Zeit kurz vor dem Eintreten der Dunkelheit. Ich liege mit Kairos auf der Couch und schlürfe ein Gläschen Crémant.

„Erzähl mir von deinen Träumen, Liebes“, sagte er sanft.

Ich räkele mich in seinem Arm „Ich würde so gerne noch einmal für ein paar Monate im Ausland leben.“

Überrascht schaut er mich an: „Was zieht Dich dort hin?“

Und so erzähle ich. Von meinem intellektuellen Abenteuer des berufsbegleitenden Philosophiestudiums, von der Befriedigung des Lernens, der Sehnsucht nach mehr, und dass ich so gerne ein Semester lang im Ausland studieren wolle. Kairos hört mir aufmerksam zu.

„Wo genau willst du denn studieren?“ fragt er, während er zärtlich meinen Nacken krault.

„Ich will nach Polen.“

„Nach Polen? Tatsächlich?“ Er wirkt überrascht.

„Ja, nach Polen.“

Jetzt ist Kairos hellwach: „Was brauchst du denn dafür?“

„Am einfachsten würde es über ein Erasmus-Stipendium gehen, aber meine Uni ist nicht ERASMUS-Mitglied.“

„Hmh, und was noch?“

„Meine Chefs müssen natürlich mitspielen. Sie müssen mich für ein halbes Jahr remote arbeiten lassen, und zwar nur Teilzeit.“

„Sonst noch etwas?“

„Nein, alles andere bekomme ich selbst geregelt.“

„Wir werden sehen, Liebes“, grinst er mich an. „Aber jetzt muss ich los.“ Wir stehen auf. Und schon beginnt er, um mich herum zu tänzeln. Ich seufze. Mein Kairos. Immer unterwegs. Süße kleine Flügel waren ihm an den Füßen gewachsen, die ihn fliegen ließen wie der Wind. Unser Tête-à-Tête ist für heute beendet – wann würden wir uns wohl wiedersehen?

Wenige Wochen später verkündet die Hochschule, sie sei ERASMUS-Partner geworden und die ersten Studierenden könnten im Herbst ins Ausland. Mit klopfendem Herzen öffne ich die Liste der Partneruniversitäten. Und da ist es – das Ignatianum in Krakau.

Aufmerksam lese ich die Bewerbungsbedingungen – da steht nichts von einer Altersbeschränkung. Ich bewerbe mich. Und erhalte die Zusage.

Nun noch das Gespräch mit meinem Chef. Ich bereite mich argumentativ gründlichst vor. Was gar nicht nötig gewesen wäre. Herzlich gratuliert er mir zu meinem Stipendium und erklärt sich mit einer vorübergehenden Änderung meines Arbeitsvertrages sofort einverstanden.

Ende September 2019 zog ich als Erasmusstudentin nach Krakau. Ich war 57 Jahre alt.

Trunken vor Glückseligkeit stand ich in der Silvesternacht auf der Fußgängerbrücke über der Weichsel und blickte suchend in den Himmel. Da!