„Wir müssen uns mit Marie etwas einfallen lassen!“
Athene stellt ihren Becher energisch auf den Marmortisch neben ihrer Chaiselongue. Sie hat sich mit Demeter, der Göttin der Fruchtbarkeit und der Mütterlichkeit, sowie den beiden Göttern der Zeit, Chronos und Kairos, in einem Seitentrakt des Olymps zusammengefunden. Zwei hohe Fenster lassen helles Licht herein und gewähren einen grandiosen Ausblick in den Himmel und hinunter auf die Erde.
„Wieso?“, fragt Demeter verwundert. „Der geht es doch gut!?“
Chronos, der bedächtig sein Stundenglas hebt, fügt hinzu: „Aber sie ist kürzlich 60 geworden. Ihre Zeit, meine Damen, läuft langsam ab.“
Kairos, der auf einem niedrigen Schemel sitzt, richtet sich auf: „Also, verdient hätte sie es ja – dass sie nochmal etwas richtig Tolles erlebt.“
Athene winkt ab. „Komm, Kairos, jetzt sei nicht unverschämt. Was hat Marie nicht alles in den letzten Jahren von uns bekommen: ein Philosophiestudium, ein Auslandssemester in Krakau, Erfolg im Beruf, Einladungen zu Symposien …“
„Nicht zu vergessen, ihre Tochter studiert fleißig“, ergänzt Demeter, „und ihr Sohn hat kürzlich sein Fachabitur bestanden.“
„Ja, Ihr habt schon recht, Ihr Lieben, wir haben sie reich beschenkt“, ruft Kairos selbstzufrieden seinen göttlichen Freunden zu, „aber das haben wir nicht einfach aus unserer Götterlaune heraus getan. Nie hat Marie geklagt, nie gehadert, immer bereit, ihren eigenen Teil zum Gelingen ihres Lebens beizutragen. Erinnert Ihr Euch noch, 2006? Sie hatte sich nach dem Scheitern ihrer Ehe gerade eingeschwungen in ihr neues Leben: Job einigermaßen im Griff, die Kinder auf guten Schulen, und Eros hatte ihr noch Christian gesandt. Ich gebe Euch recht – sie hat ihre Sache gut gemacht, wirklich gut. Und sie wusste unsere Unterstützung zu schätzen.“
„Ich erinnere mich noch genau an diese Zeit“, greift Demeter den Faden auf. „Oft und lange hatte ich mit ihr darüber gesprochen, was es bedeutet, eine gute Mutter zu sein. Ich behaupte ja heute noch: Nur wer gut und gütig zu sich selber ist, kann auch anderen Menschen etwas geben.“
„Aber dann kam Zeus auf die Idee, ihr ein weiteres Päckchen aufzuerlegen“, wirft Athene ein.
„Ja, das war echt fies“, ereifert sich Demeter. „Ihrer süßen Tochter diesen schrecklichen Morbus Perthes aufzubürden. Jahre voller Schmerzen, Operationen und Humpeln in Schienen.“
„Sag mal, Athene,“ mischt sich jetzt auch Chronos ein, „du warst doch damals regelmäßig mit Marie joggen. Und ich erinnere mich, dass du bei so einem Treffen ein entscheidendes Gespräch mit ihr hattest. Wie war das gleich nochmal?“
Athene nickt langsam. „Sie war wütend, als sie mir von der Diagnose ihrer Tochter erzählte. Und dann fragte sie mich direkt: ‚Warum auch das noch?'“
„Und was hast du geantwortet?“, will Kairos wissen.
„Ich sagte: ‚Marie, starke Frauen bekommen starke Aufgaben.“
Kairos schnaubt leise und beugt sich dann leicht nach vorne und blickt Athene fragend in die Augen. „Und? Was hat Marie auf diesen weisen Satz hin gesagt?“
„Marie redete einen Kilometer lang kein Wort mehr mit mir! Dann sagte sie, dass sie diese Aufgabe annehmen werde. Allerdings nur unter zwei Bedingungen.“
Chronos dreht nachdenklich das Stundenglas in seinen Händen. „Die da wären?“
„Erstens: Wenn sie uns um Hilfe ruft, dann erwartet sie, dass wir ihr beistehen – sofort.“
„Ganz schön fordernd.“ Demeter zieht eine Braue hoch. „Und die zweite?“
„Wenn sie irgendwann sagt: ‚Ich kann nicht mehr‘, dann müssen wir das akzeptieren. Ohne Diskussion.“
Stille breitet sich aus. Ein kühler Windhauch zieht durch den Raum, hebt den feinen Staub antiker Zeiten und trägt ihn hinaus in die Dämmerung.
„Hast du die Bedingungen angenommen?“, will Kairos wissen.
„Ich fand, das war ein fairer Deal“, sagt Athene schließlich. „Und wir alle haben dann ja auch gut zusammengearbeitet. Im Job hat Marie mit meiner Hilfe einige smarte Überlebensstrategien entwickelt, und mit Christian hatte Eros ihr genau den passenden Mann geschickt“.
„Darauf einen Toast!“ ruft Kairos aus, erhebt das Glas und lachend prosten sich alle zu. „Auf uns und natürlich auf Marie!“
Chronos lehnt sich in seinem Sessel zurück und nimmt den Faden wieder auf:
„Ich gebe ja zu, ich hatte sie von morgens bis abends durchgetaktet. Aber ganz ehrlich: Sie mochte das. Und sie wurde in ihrem Zeitmanagement immer besser. Aber wir haben ihr ja auch regelmäßig Auszeiten gegönnt – für ihre Tête-à-Têtes mit ihrem Freund – oder ab und zu mit Kairos.“
Kairos grinst und hebt erneut das Glas: „Bruder, damals hattest DU eindeutig die Nase vorn. Aber ich bin mir sicher: Meine Zeit wird auch noch kommen. Ich habe da auch schon eine Idee …“
Und so stoßen sie an – auf Marie, auf das Leben und darauf, dass die Götter noch lange nicht fertig mit ihr sind.