Ich stehe vor meiner Haustür und warte. Auf Pegasus, den Geflügelten. Pünktlich erscheint er. Ich steige auf seinen Rücken und spüre den kräftigen Schlag seiner Schwingen, als wir durch die Wolken aufsteigen. Immer höher, immer weiter. Bis der Olymp erscheint, leuchtend im Abendlicht. Die goldenen Verzierungen, die hohen Marmorsäulen, die weiten Hallen – ein majestätischer Ort. Pegasus landet sicher auf dem Vorhof.
Dankend lasse ich mich auf den Boden gleiten, streiche mein Gewand glatt und trete durch das hohe Tor ins Vestibül. Der Boden aus poliertem Marmor reflektiert das sanfte Licht unzähliger Öllampen. Die Luft ist erfüllt von den zarten Klängen einer Lyra, gemischt mit dem leisen Klirren von Kelchen. Auf kleinen Tischchen stehen kunstvoll arrangierte Speisen in silbernen Schalen. Der süße Duft von Honig und Feigen mischt sich mit dem Aroma von gewürztem Wein.
Ich bin etwas früh dran. Neugierig lasse meinen Blick schweifen. Aus der Haupthalle wehen Gesprächsfetzen herüber. Die Götter scheinen über die Menschen zu sprechen.
Da ist eine Frauenstimme. Ich glaube, sie gehört Hera: „Früher wussten die Menschen, dass sie Teil eines größeren Plans waren. Sie glaubten an unser Wirken, an das Schicksal. Doch nun? Nun sprechen sie von Karrieren, von Zielen, als hätten sie alles in der Hand!“
„Sie glauben, die Zeit im Griff zu haben, doch am Ende ist es der Moment, der sie führt, nicht umgekehrt. Und doch… wie oft verpassen sie den richtigen Moment?“ Das muss Kairos sein, der Gott der günstigen Gelegenheit.
Eine etwas tiefere Stimme erwidert: „Die Menschen haben den Glauben an uns verloren. Ihr Vertrauen gilt der Wissenschaft, dem Fortschritt, der Kontrolle über ihr Leben. Aber wie stabil ist dieses Fundament wirklich?“ Apollo, der Gott der Wahrheit? Ich lausche weiter. Ah, und jetzt eine ganz tiefe Stimme. Das ist eindeutig Zeus.
„Vielleicht brauchen sie uns nicht mehr. Vielleicht glauben sie, dass ihre Entscheidungen genügen. Bis zu dem Moment, in dem das Unvorhersehbare eintritt.“ Dann kichert er. „Erinnert euch an Covid. Damals waren sie kurz gezwungen, sich ihrer eigenen Unverfügbarkeit bewusst zu werden. Doch schaut sie euch jetzt an – sie tun so, als wäre nichts gewesen.“
„Für einen Moment schien es, als hätten sie verstanden“, pflichtet ihm Apollo bei. „Doch sie sind schnell in ihre alten Muster zurückgefallen. Vielleicht sollten wir wieder eingreifen.“
Ich höre zu und frage mich: Sind wir Menschen wirklich die Gestalter unseres Lebens? Oder sind wir doch den Launen der Götter ausgeliefert?
Ich spüre einen inneren Druck, eine Antwort zu finden. Die Götter haben mich und andere Gäste eingeladen, um mit ihnen zu diskutieren, unsere Sichtweisen einzubringen, unsere Perspektiven mit ihnen zu teilen. Sie wollen verstehen, wie wir Sterblichen die Welt sehen. Diese Einladung ist eine Ehre, und ich möchte ihren und meinen Erwartungen gerecht werden.
Ich wende mich um und betrete einen der Seitengänge. Ein Spiegel fängt das warme Licht der Halle ein. Ich atme tief durch. Angespannt suche ich nach meinem Lippenstift in meiner Handtasche. Da ist eine Bewegung hinter mir. Eos, die Göttin der Morgenröte, betrachtet mich mit einem wissenden Lächeln. Sie scheint meine Unsicherheit zu spüren. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, gestehe ich.
Sie legt den Kopf leicht zur Seite. „Ach, Marie, mach dir mal keine Sorgen. Die Götter schätzen dich sehr. Sie haben dich eingeladen, weil sie wissen, dass du etwas beizutragen hast.“ Ich spüre, dass sie mich mag. „Es geht nicht darum, eine perfekte Antwort zu haben. Deine Sichtweise ist wertvoll. Also, nur Mut, bring dich ein.“ Mit einem Lächeln entschwindet sie.
Ich betrachte mich im Spiegel, hole endlich meinen Lippenstift aus der Tasche und ziehe meine Lippen nach. Ich weiß immer noch nicht genau, was ich sagen will. Aber jetzt bin ich bereit, meine Gedanken zu teilen und mit den Göttern und den anderen Gästen ins Gespräch zu kommen. Ich freue mich sogar darauf.
Ich atme tief ein, schenke mir einen letzten Blick im Spiegel, betrete wieder das Vestibül und öffne die Tür zum Festsaal.